ICH WAR ZUHAUSE, ABER... Film Moos auf den Steinen - Bert Rebhandl über die Filme von Angela Schanelec

Moos auf den Steinen

Bert Rebhandl über die Filme von Angela Schanelec

„Die wird wohl nicht mehr sauber“, sagt die Frau in der Reinigung, als sie eine gelbe Jacke in die Hand bekommt. Sie gehört einem Jungen namens Philipp. Er war eine Weile verschwunden, wo er war, ist nicht ganz klar, die Jacke lässt aber erkennen, dass er irgendwo draußen war. Draußen in der Natur. Draußen, außerhalb der Stadt. Außerhalb der Familie. Philipp hatte seine Mutter Astrid und seine Schwester Flo verlassen. Nun ist er wieder da. „Ich hab ihn wieder“, sagt Astrid. Aber sie hat ihn nicht wirklich wieder. Ein wenig später wird sie über Philipp sagen: „Mein ganzes Leben ist in seinen Händen.“

Das ist ein großer Satz, aber Astrid sagt ihn ohne übermäßige Betonung. Dabei legt sie gerade einen starken Auftritt hin. Sie hat sich Zugang zum Lehrerzimmer verschafft, in der Schule von Philipp, und sie spricht nun zu der ganzen Belegschaft über ihren Sohn. Sie appelliert: „Ich weiß, Sie müssen sich ein Urteil verschaffen, aber das scheint mir nicht möglich. Ich bin mit etwas konfrontiert, was ich nicht lösen kann.“ Astrid ist damit konfrontiert, dass Philipp „ein Mann ist oder wird. Es gibt kein Wort für diesen Zustand.“

Es gibt allenfalls geläufige Wörter für diesen Zustand: Pubertät, oder Erwachsenwerden. Angela Schanelecs Film „Ich war zuhause, aber ...“ könnte man dementsprechend als einen Versuch über die Pubertät bezeichnen. Dabei ist aber immer zu berücksichtigen, dass es für diesen Zustand „kein Wort“ gibt, und dass die Figur im Zentrum des Films nicht Philipp ist, sondern seine Mutter Astrid. Und auch diese Logik von Haupt- und Nebenfigur hat nur bis zu einem gewissen Grad Berechtigung.

*****

In den Filmen von Angela Schanelec gilt immer genau das, was gerade zu hören und zu sehen ist. Die Geschichten, die daraus werden, kann man sehr gut in der Spannung sehen, von der Astrid gegenüber den Lehrern spricht: zwischen der Versuchung, sich ein Urteil zu bilden, und dem Zugeständnis, dass das Leben immer wieder mit Umständen konfrontiert, die sich nicht lösen lassen. Irgendwo dazwischen liegt die Wirklichkeit, von der Angela Schanelec erzählt.

Im Lauf der Jahre hat sie ihre Kunst immer deutlicher ausgeprägt, und mit den letzten beiden Filmen „Der traumhafte Weg“ und nun „Ich war zuhause, aber...“ hat sie eine einzigartige Weise gefunden, von den Dingen des Lebens zu erzählen. Sie erzählt im Grunde einfache Geschichten, aber sie erzählt dabei immer mit, dass es keine einfachen Geschichten gibt, sondern dass es in jeder Szene um alles geht. Die Filme werden dadurch aber nicht schwer, sondern leicht. Sie öffnen sich auf eine elementare Dimension, für die es in der Philosophie ein Wort gibt: Eigentlichkeit oder Authentizität.

Die einfache Geschichte in „Ich war zuhause, aber...“ geht so: Astrid ist die Mutter von Philipp und Flo. Vor zwei Jahren ist der Vater, ein Theaterregisseur gestorben – in der Familie fehlt ein Mann, während Philipp gerade einer wird. In der Schule wird Hamlet gespielt, die Geschichte eines jungen Mannes, in dessen Familie der Vater fehlt. In einem konventionellen Film würde man sagen: Astrid hat eine Krise. Aber auch dann wäre erst noch zu bestimmen, was für eine Krise das ist. Es könnte sich um eine Krise in der Mitte des Lebens handeln, vom Alter her würde das passen, aber das wäre zu sehr nach einem biographischen Muster gedacht.

*****

Angela Schanelecs Filme sind nicht konventionell. Sie setzen sich im Gegenteil deutlich davon ab, wie Erzählungen üblicherweise funktionieren. Im kulturellen Alltag geht es darum, dass Figuren nachvollziehbar sind, dass man ihnen nahe kommt, dass man sich mit ihnen identifiziert. Es geht darum, dass sich Szenen plausibel aneinanderreihen und dass sich daraus eine spannende oder bewegende Geschichte ergibt. Zu diesem kulturellen Alltag, wie ihn zum Beispiel das Fernsehen mit seinen Formatlogiken, aber auch das deutsche Kino auf seiner Suche nach Erfolgsrezepten bestimmt, hält Schanelec eine genau bestimmte Distanz. Auch mit Astrid kann man sich identifizieren, aber das hebt die Fremdheit nicht auf. Sie macht die ganze Zeit eigentlich ganz normale Dinge, aber sie macht sie mit einer Bestimmtheit, die auf etwas Prinzipielles verweist. Ihr Erscheinen vor dem Lehrerkollegium hat etwas von einem Ereignis: so spricht man im Alltag eigentlich nicht, so klar und überlegt und herausfordernd, dabei aber die eigenen Zweifel nicht verbergend. Aber vielleicht sollte man so sprechen.

In den Filmen von Angela Schanelec steckt immer auch ein Geist der Utopie, ein Vorschein der Verwirklichung dessen, was es bedeuten kann, ein Mensch zu sein. Menschen sind wir in jedem Moment, beim Aufwachen, beim Frühstücken, bei Fahrradfahren, in der Liebe, und vor allem auch in Familien, denn hier erkennen wir einander als verwandte Wesen. Als Menschen erfahren wir einander auch im Umgang mit Tieren. Mit ihnen teilen wir ein Leben, mit dem alles beginnt: körperliches Dasein.

*****

Das Theater war in der bürgerlichen Gesellschaft lange der Ort, an dem das Menschsein in seiner ganzen Erstreckung zwischen Banalität und höchster Tragik, zwischen Beiläufigkeit und Glück durchmessen wurde. In der Klassik wurde das Theater zu einem Ort der ästhetischen Erziehung. Für Angela Schanelec ist das Theater nach wie vor eine wichtige Instanz: in „Nachmittag“ sieht man sie als Bühnenschauspielern, in „Ich war zuhause, aber...“ verwendet sie eine Shakespeare-Übersetzung, die sie mit ihrem 2009 verstorbenen Mann Jürgen Gosch erstellt hat. Das Theater enthält so etwas wie die Grundelemente, die Schanelec auch im Kino betont: gegenwärtige Körper, die etwas zum Ausdruck bringen. Atmende, sprechende Wesen, die sich verwandeln können, aber immer auf das Gleiche zielen – auf die Spannweite des Menschen, im Guten wie im Schlechten.

In „Ich war zuhause, aber...“ gibt es in dem langen Gespräch, das Astrid mit dem Filmemacher führt, viele Echos der ästhetischen Theorien, die für das Verhältnis von Theater und Film, und im weiteren Sinn: von Leben und Kunst, bestimmend sind. Denn es gibt ja immer diese Grenze: das Leben kann man nicht spielen. Eine der revolutionärsten Antworten darauf ist: das Leben kann man nur spielen.

*****

Ihren ersten Film hat Angela Schanelec im Jahr 1991 gemacht. Sie gehört zu einer Generation im deutschen Kino, der so etwas wie ein Neubeginn geschenkt wurde. Bis zur „Wende“ war mit den beiden deutschen Staaten auch das Erbe der bürgerlichen Klassik geteilt: in der Bundesrepublik wies das überwältigende Wirtschaftswunder der Kultur eine genau definierte Rolle zu, aus der die Künste sich zu emanzipieren versuchten; in der DDR gab es keine bürgerliche Gesellschaft, und deren Erbe wurde für eine Staatsideologie in Dienst genommen, die zu Recht auf Misstrauen stieß. In der Berliner Republik und in einem Europa, das sich neu konfiguriert, konnten die Traditionslinien neu gezogen werden.

Die erste Szene von Angela Schanelecs erstem längeren Spielfilm „Ich bin den Sommer über in Berlin geblieben“ ließen sofort erkennen, dass es um ein Kino gehen würde, in dem nicht einfach erzählt wird, sondern in dem die Mittel und Formen der Erzählung immer mitbedacht werden: Angela Schanelec spielte 1994 selbst eine Hauptrolle, eine Frau mit einer Stimme und einer Schreibmaschine. Gesprochener Text ist die Grundlage fast aller Filme, vor allem in einer Filmkultur wie in Deutschland, die drehbuchfixiert ist. Selten macht man sich allerdings klar, dass gesprochener Text ein Spannungsverhältnis mit sich bringt: denn in dem Moment, in dem jemand schon weiß, was er oder sie sagen wird, entsteht eine Natürlichkeit zweiter Ordnung, in manchen Fällen auch eine Künstlichkeit. In dieser Spannung stehen natürlich vor allem die Kinder, die in „Ich war zuhause, aber...“ Shakespeare spielen. In dieser Spannung steht aber auch Astrid, wenn sie vor dem Lehrerkollegium spricht. Sie hat sich sicher vorher überlegt, was sie sagen wollte. Ihr Monolog steht in der Spannung zwischen spontaner Selbstbekundung und präziser Intervention.

*****

Das Theater wusste immer um die Künstlichkeit seiner Situation. In der Regel wurde diese als Vorzug genommen, als eine Ausnahme vom Alltag, die es erlaubt, sich über Grundsätzliches zu verständigen. Angela Schanelec übernimmt dieses Privileg ins Kino, achtet aber sehr darauf, die Ausnahme (eine hoch bewusste Sprachlichkeit und Körperlichkeit) wieder natürlich werden zu lassen. In den ständigen Übergängen zwischen Natur und Kultur könnte man vielleicht sogar den Grundakkord ihres Werks sehen: charakteristisch sind dabei die vielen Einstellungen, in denen sich Bildräume auf Wasser oder Vegetation öffnen. Die gestalteten Räume, mit denen Menschen sich umgeben, sind eingebettet in eine gestaltete Natur, die zumindest noch in Andeutungen wissen lässt, dass sie einmal Wildnis war.

In den letzten beiden Filmen ist dieses Motiv nun noch deutlicher geworden: sowohl in „Der traumhafte Weg“ wie auch in „Ich war zuhause, aber...“ gibt es Szenen, in denen Menschen die bürgerliche Welt hinter sich lassen. Es sind keine endgültigen Entscheidungen, aber es sind Bilder, die einen Horizont öffnen: sich ins Moos zu betten, sich auf einen Stein am Bach zu legen, das sind Aussetzungen in eine Geborgenheit, die man im eigenen Bett nicht finden kann. Die konventionelle Form dieser Erfahrung gibt es in vielen Geschichten: Menschen fahren ans Ende der Welt, um etwas zu finden, was ihnen der Alltag verschweigt.

Angela Schanelec findet diesen „anderen Zustand“ (so nannte der Schriftsteller Robert Musil die Formen der Transzendenz im Alltäglichen unter den Bedingungen der Moderne) nicht auf großen Abenteuern, sondern inmitten des Lebens, wie es in einer Stadt wie Berlin jeden Tag stattfindet. Sie ist eine Chronistin der Gegenwart, und öffnet diese Gegenwart zugleich in jedem Moment auf ihre bestimmenden Dimensionen: auf ein Bewusstsein für die Traditionen, aus denen sie kommt, und auf ein Bewusstsein von der Offenheit in eine ungeahnte Zukunft. Auf ein Leben, das seiner Natur nicht entfremdet ist, und seiner Kultur gewahr.

»Ein Arthouse-Meisterwerk.«
IONCINEMA
»Man fühlt sich weniger schlau als der Esel, der neben dem schlafenden Hund aus dem Fenster blickt in diesem unglaublichen Prolog. Und glaubt doch, einen sehr persönlichen Film vor sich zu haben, voller Schmerz und Schönheit.«
BERLINER ZEITUNG, PHILIPP BÜHLER
»Dem Leben zuschauen. Wie es still steht und weitergeht, wie es vom Tod umfangen ist, wie es manchmal leuchtet, mitten im Alltag, wie es komisch wird und banal. Und doch entzieht es sich dem Zugriff, den Bildern, den Künsten. (...) Schanelecs Filme sind nichts für Sinnsucher, sie misstrauen den Welterklärern. Weil das Leben sich nicht erklärt. Man kann nur etwas zeigen davon.«
TAGESSPIEGEL
»Elegant und elliptisch … Wer sich darauf einlässt, wird in höchstem Maß belohnt mit dem, was Schanelecs Stil auszeichnet: Vignetten von überwältigender menschlicher Wahrheit und kühlem, widerspenstigem Humor; wunderbare Frühherbststimmungen und ein unwiderstehlich ruhiger Rhythmis, der es uns erlaubt, das alles wahrzunehmen.«
VARIETY
ich-war-zuhause-aber-film-billing.jpg billing
ICH WAR ZUHAUSE, ABER... – Ein Film von Angela Schanelec
Verleih
|
Newsletter
|
Pressebetreuung
|
Kontakt + Impressum
|
Datenschutzerklärung
|
Home